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Granitene Engel und Dämonen spähten von der reich verzierten Fassade des Stockman Building, einem vierzehnstöckigen Gebäude, das kurz nach dem Ersten Weltkrieg im Zentrum Portlands errichtet wurde, auf die Passanten herab. Die Anwaltskanzlei von Jaffe, Katz, Lehane and Brindisi hatte den achten Stock gemietet. Frank Jaffes geräumiges Eckbüro war üppig mit Antiquitäten ausgestattet. Er saß hinter einem mächtigen Schreibtisch, den er für einen Apfel und ein Ei bei einer Vorsteigerung erworben hatte. Stiche von Currier und Ives schmückten eine Wand und ihm gegenüber hing über einem bequemen Sofa ein Ölgemälde der Columbia-Schlucht aus dem neunzehnten Jahrhundert, das Frank bei einer anderen Versteigerung entdeckt hatte. Das einzig Unpassende war der Computermonitor, der am Rand von Franks Schreibtisch stand.
Vincent zeigte kein Interesse für die Einrichtung des Büros. Die Aufmerksamkeit des Chirurgen war ausschließlich auf seinen Anwalt gerichtet, und er rutschte nervös in seinem Sessel hin und her, während Frank Fred Scofields jüngsten Schachzug erläuterte. »Das heißt also, dass wir doch wieder vor Gericht müssen?« »Ja. Richter Brody hat die Anhörung für den nächsten Mittwoch angesetzt.« »Was soll denn diese Scheiße? Wir haben doch gewonnen, oder?« »Scofield hat beantragt, meinen Antrag auf Nichtzulassung von Beweismitteln nochmals zu verhandeln. Er hat eine neue Theorie, unvermeidliche Entdeckung.«
»Was hat das zu bedeuten?«
»Die Theorie leitet sich aus Nix gegen Williams her, einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten. An Weihnachten 1968 verschwand ein zehnjähriges Mädchen aus einem YMCA-Gebäude in Des Moines, Iowa. Kurz nach seinem Verschwinden wurde beobachtet, wie Robert Anthony Williams mit einem großen, in eine Decke gewickelten Bündel das Gebäude verließ. Ein kleiner Junge, der Williams half, die Autotür zu öffnen, sah zwei dünne weiße Beine unter dieser Decke. Am nächsten Tag wurde Williams' Auto einhundertsechzig Meilen östlich von Des Moines in Davenport, Iowa, gefunden. Später wurden Kleidungsstücke, die dem Kind gehörten, und eine ähnliche Decke wie die, die Williams aus dem YMCA getragen hatte, in einer Raststätte zwischen Des Moines und Davenport gefunden. Die Polizei schloss daraus, dass Williams die Leiche des Mädchen irgendwo zwischen Des Moines und der Raststätte hatte verschwinden lassen.«
Jaffe machte eine Pause.
»Die Polizei setzte zweihundert Freiwillige ein, um eine groß angelegte Suche nach der Leiche durchzuführen. Unterdessen stellte Williams sich der Polizei in Davenport und nahm mit einem Anwalt in Des Moines Kontakt auf. Zwei Detectives aus Des Moines fuhren nach Davenport, holten Williams ab und fuhren mit ihm zurück nach Des Moines. Auf der Fahrt sagte einer der Beamten zu Williams, es könne sein, dass Schnee das kleine Mädchen bedecke und so ein Auffinden der Leiche unmöglich mache. Weiter sagte er, die Eltern hätten ein Recht auf ein christliches Begräbnis für das kleine Mädchen, das ihnen am Weihnachtsabend entrissen worden sei. Ein wenig später auf dieser Fahrt sagte Williams den Detectives, wo die Leiche zu finden sei. Vor dem Prozess stellte Williams' Anwalt den Antrag, Beweismittel über den Zustand der Leiche nicht zuzulassen, mit der Begründung, die Entdeckung der Leiche sei das Resultat von Williams' Aussagen, und diese Aussagen seien das Produkt einer Befragung, die illegal war, weil sie in Abwesenheit seines Anwalts stattfand. Ich will dich jetzt nicht mit den Details der Einsprüche langweilen, die schließlich dazu führten, dass der Fall zweimal vor den Obersten Gerichtshof kam. Wichtig für dich ist nur, dass die Richter sich der Theorie der unvermeidlichen Entdeckung anschlössen. Sie argumentierten, die Beweislage stütze die Vermutung, dass die Leiche des kleinen Mädchens von der Suchmannschaft unweigerlich gefunden worden wäre, auch wenn Williams die Polizei nicht zu ihr geführt hätte. Daraufhin verfügte das Gericht, dass Beweismittel, die normalerweise wegen polizeilichen Fehlverhaltens nicht zuzulassen seien, dennoch zulässig sind, wenn sie unweigerlich entdeckt worden wären.«
»Inwiefern hilft das Scofield?«
»Die Berghütte steht auf Privatgrund, aber das Gräberfeld befindet sich auf einem Pfad, der durch einen Staatsforst führt. Scofield argumentiert, dieses Gräberfeld sei so unübersehbar gewesen, dass Vasquez, ein Wanderer, ein Ranger oder sonst irgendjemand es unweigerlich gefunden hätte, und das wäre dann für einen Richter der Grund gewesen, einen Durchsuchungsbefehl für die Hütte auszustellen.«
Cardoni lachte. »Das ist völliger Blödsinn. Vasquez hat doch diese Gräber gar nicht selbst entdeckt, und es war kein Mensch in der Nähe der Hütte, bis Vasquez die Bullen rief.«
»Das stimmt, Vince. Das Argument ist völliger Unsinn, aber es kann sein, dass Brody mit beiden Händen danach greift. Es steht eine Wahl bevor, und es geht das Gerücht, dass Brody sich noch für eine Amtszeit bewerben und dann in den Ruhestand gehen will. Wenn er die Wahl verliert, wäre das eine Demütigung für ihn. Gibt er Scofields Antrag statt, könnte er sich damit von der unpopulärsten Entscheidung distanzieren, die er je getroffen hat. Die meisten Wähler in Milton County haben keine Ahnung von den Feinheiten der Durchsuchungsund Sicherstellungsgesetze. Sie wissen nur, dass Brody dich hat laufen lassen und dass die Polizei dich für Jack the Rippers noch fieseren Cousin hält.«
»Auch wenn dieser Fettkloß für Scofield entscheidet, würdest du doch die Revision gewinnen, oder?«
»Da bin ich mir ziemlich sicher. Das Problem ist, dass Brody dich für die Dauer des Prozesses wieder ins Gefängnis steckt.«
Cardoni wippte unwirsch mit dem Fuß.
»Ich bezahle dich, damit du für so etwas vorsorgst.«
»Das habe ich nicht getan, Vince, und das konnte man auch nicht.«
Cardoni starrte Frank böse an. Er war starr vor Wut.
»Ich gehe nicht wieder ins Gefängnis, weil irgendein fetter Richter eine Wahl gewinnen will. Entweder du schaffst die Sache aus der Welt - oder ich.«